Die großen Engelfiguren, die heute den Besucher der Jakobikirche durch die Schaufenster des Kunstgut-Depots anblicken, gehören zum Bildprogramm des barocken Orgelprospektes aus den 1730er-Jahren. Ihr Schöpfer war der Stralsunder Bildhauer Michel Müller. In den Akten ist er auch als Michael Möller erwähnt – die Schreibweisen der Namen differieren in dieser Zeit mitunter stark. Er war ein Schüler und der Werkstattnachfolger des genialen Elias Kessler, der in der Stralsunder Kunst von etwa 1710 bis zu seinem Tod 1730 hohe Maßstäbe gesetzt hatte. Das wirkte im Werk seines Schülers nach.
Am 20. Januar 1731 heiratete Michel Müller die Witwe seines Meisters. (Trauregister St. Marien Nr. 715, dort „Kößler“). Am selben Tag wurde Müller als „Extraneus“ – also Auswärtiger – und Bildhauer ins Stralsunder Bürgerbuch eingetragen. Sein Meister, „der berühmte Bildhauer“ Elias Kessler, müsste demnach am 19. Januar 1730 verstorben sein. Begraben wurde er am 26. Januar in St. Marien. Der 19. Januar 1730 ergibt sich aus dem Ablauf des Trauerjahres für die Witwe. Erst „nach Jahr und Tag“ durfte wieder geheiratet werden. Es war ein gängiger Akt, dass der Geselle mit der Witwe des Meisters nach dessen Tod die Werkstatt übernahm. Manche Witwe überlebte mehrere Meister. Kesslers Frau jedoch folgte ihrem ersten Mann wenige Jahre später. Schon am 10. November 1736 heiratete Michel Müller erneut, nun die Jungfer Christina Elisabeth Drews(Trauregister St. Marien Nr. 883). Das Todesdatum Michel Müllers ließ sich bisher nicht sicher ermitteln, da im Begräbnisregister der St. Marienkirche zwei Bildhauer Namens Müller in der betreffenden Zeit jeweils ohne Angabe des Vornamens eingetragen sind.
Unter den für Michel Müller gesicherten Werken sind die Figuren des Orgelprospektes in St. Jakobi die frühesten und stehen dem Werk seines Vorgängers Elias Kessler am nahesten. Besonders in den großen Engelfiguren der Bekrönung äußert sich die lebendige Kraft des Barock, wie wir sie von Kesslerschen Gestalten her kennen. Auch die Architektur des Orgelprospektes ist von barocker Wucht. Karl Möller und auch Dietrich W. Prost gingen davon aus, dass der Entwurf für das Gehäuse von dem Stettiner Orgelbaumeister Christian Gottlieb Richter stammt und Michel Müller nur mit dem Skulpturenschmuck beauftragt wurde. Laut einer Kostenaufstellung der Provisoren für die Orgel Christian Gottlieb Richters vom 5. März 1732 hatte Michael Möller die Kosten für die Bildhauerarbeit auf 450 Reichstaler geschätzt, jedoch „selbige vermeinet man zu accordieren“ auf 350 Reichstaler
(siehe Prost 1979, S. 164). Weitere beteiligte Unternehmer waren der Zimmermann Höppner und der Tischlermeister Pirlstiber (ebd.).
Der Prospekt gliedert sich in die seitlichen, von Karyatiden getragenen Pedaltürme, Hauptwerk, Oberwerk und Unterwerk. Die einzelnen Werke sind durch kräftig profiliertes Gebälk voneinander geschieden. Der Grundriss der Schauseite wird durch ein bewegtes Vor- und Zurückschwingen belebt. Ähnliches beobachten wir bei den Altaraufsätzen aus Müllers Werkstatt, etwa in Trent auf Rügen (1747/48). Weitere bezeugte Werke des Bildhauers finden sich in Bessin, Wiek, Eixen, Wusterhusen, Prerow und an der Küssowschen Grabkapelle in St. Marien. Die beiden letzteren Arbeiten schrieb Karl Möller einem in Müllers Werkstatt tätigen wandernden Gesellen zu (Möller 1933, S. 42-44).
Oben auf der Spitze des gut 17 Meter hohen Prospekts thront in einem gesprengten Giebel König David mit der Harfe als Patron der Musik, wie er auch am Prospekt der Stellwagenorgel in St. Marien eine zentrale Stellung einnimmt. Die neben dem alttestamentarischen König auf dem obersten Giebel sitzenden Engel erinnern an die bewegten kesslerschen Engel auf dem Taufgehäuse in St. Nikolai. Zweifellos hatten die Bildungen des großen Meisters der Stralsunder Bildhauerkunst eine Vorbildwirkung auf den Nachfolger. Weitere musizierende Engelgestalten bekrönten die Pedaltürme und flankierten mit Posaunen in den Händen das Oberwerk, zwei kleinere das Unterwerk, von denen nur der linke gegenwärtig am leeren Gehäuse befestigt ist. Die Engel ordnen die Musik des Instrumentes himmlischen Sphären zu. Bei der Demontage des Prospektes 1943 verblieben nur die beiden die Pedaltürme tragenden Karyatiden am Gehäuse. Vermutlich handelt es sich bei den weiblichen Gestalten, die auf Kissen auf den Köpfen das Gebälk tragen, um die Personifizierungen von Tugenden. Verschliffen wurde die Architektur des Gehäuses durch das reiche Akanthus- und Bandelwerk der Schleierbretter über den Prospektpfeifen und der Seitenwangen. Diese Ornamentschnitzereien sind ebenfalls der Bildhauerarbeit zuzuordnen. In ihrer äußeren Gestalt ist die Mehmelorgel in St. Jakobi ein Werk großartiger barocker Bildhauer- und Tischlerkunst.
Detleff Witt
Konsthistoriker und Bauforscher (Greifswald)
Quellen:
Karl Möller, Die Stralsunder Bildhauerkunst des 18. Jahrhunderts, in: Pommersche Jahrbücher 27/1933 (zgl. Phil. Diss. Greifswald, 1933).
Dietrich W. Prost, Die Orgel in der Jakobikirche zu Stralsund, in: Greifswald Stralsunder Jahrbuch Bd. 12, 1979, S. 161-182.